03 Das Kreuz als Folklore – vom Verschwinden der christlichen Glaubensbindung

Autor: Andreas Malessa

Das Kreuz als Folklore –  vom Verschwinden der christlichen Glaubensbindung

Vergleicht man die jährlichen Kirchenaustrittszahlen mit aktuellen Umfrage-Ergebnissen zum Wertebewusstsein, stellt man irritiert fest: Die Säkularisierung nimmt zu, die Religiosität aber auch. Je stärker der Wunsch nach ethischer Orientierung wird, umso drängender die Frage, wer denn bitteschön all die Werte und Tugenden herstellt und die Normen formuliert, auf die der Rechtsstaat und seine freiheitliche Zivilgesellschaft angewiesen sind.

Transformation des Christlichen?

Wenn Familie, Schule und Kirche aufgehört haben, „Moralapostel“ zu sein, wenn Politiker die Religion zur Regionalfolklore reduzieren und Populisten schon Rasse und Nation für ausreichend sinnstiftend halten – dann sucht der postmoderne Konfessionslose im multikulturellen Beziehungsgeflecht seines Berufs- und Privatlebens möglicherweise auf eigene Faust nach religiösen Quellen, Fixpunkten und Leitlinien für sein Leben.

Wird dabei das „Christliche“ am europäischen Abendland nur wiederendeckt oder auch transformiert? Ist der christliche Glaube ein verschwindendes Spurenelement oder das entscheidende Ferment unserer Kultur?

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Sendung als Podcast

Download Funkkolleg Religion Macht Politik (03), MP3-Audioformat, 24:40 Min., 45.1 MB

Sendung in hr-iNFO: 17.11.2018, 11:30 Uhr

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Zusatzmaterial

  1. Zitierte Literatur
  2. Christentum und Leitkultur
  3. Staat und Religion in Deutschland und Europa
  4. Religiosität und Kirchenbindung von Jugendlichen und Erwachsenen
  5. Der Streit um das Kreuz in Bayern
  6. Christen und die AfD

1. In der Folge zitierte Literatur

Tibi, Bassam (1998): Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München: Bertelsmann.

Evangelische Kirche in Deutschland (2016): Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, online unter: https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/zahlen_und_fakten_2016.pdf

Interview mit Monika Grütters in: Die Zeit 23/2016, online unter: https://www.zeit.de/2016/23/monika-gruetters-religion-politik-christentum (nur mit Abo)

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2. Christentum und Leitkultur

Das Konzept einer „europäischen Leitkultur“, einst vom Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi erdacht, hat eine wechselhafte Rezeptionsgeschichte in der deutschen Politik und in den Feuilletons erfahren. Tibis Ansinnen war es, einen Wertekonsens in den europäischen Einwanderungsgesellschaften zu etablieren, der von Herkunft, Religion und Ethnizität abstrahiert. Doch vor allem Unionspolitiker – von Jörg Schönbohm über Friedrich Merz bis hin zu Thomas de Maizière – haben den Begriff der Leitkultur vor allem für die deutsche Debatte umgedeutet als eine Art normativen Standard, an den sich Migrantinnen und Migranten anzupassen haben – ohne jedoch eine klare Definition zu liefern, was Kultur in diesem Zusammenhang meint.

Einen Überblick über diese Debatten bieten:

Thomas Thiemeyer (2017): Leitkultur – von den Tücken eines Begriffs, in: Merkur, Jg. 71, Heft 820, S. 73-79, online unter: https://www.merkur-zeitschrift.de/2017/08/31/thomas-thiemeyer-leitkultur-tuecken-eines-begriffs/

Löffler, Berthold (2006): „Leitkultur“ im Fokus, in: Die Politische Meinung 435, S. 14-18, online unter: https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=a0ebe34a-5bbc-b5bf-6301-5f5d842ce59a&groupId=252038

Deutsche Welle (03.05.2017): Stichwort: Leitkultur, online unter: https://www.dw.com/de/stichwort-leitkultur/a-38672905

Bassam Tibi hat später selbst die Debatten zum Leitkultur-Begriff mehrfach kommentiert:

Tibi, Bassam (2002): Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten Debatte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1-2 (2002), online unter: http://www.bpb.de/apuz/26535/leitkultur-als-wertekonsens

Interview mit Bassam Tibi: Spiegel Online (23.11.2004): „Wir brauchen eine europäische Leitkultur“, online unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/interview-mit-dem-politologen-tibi-wir-brauchen-eine-europaeische-leitkultur-a-329233.html

Tibi, Bassam (2017): Leitkultur als Integrationskonzept – revisited. Zwei missglückte deutsche Debatten 2000-2017, online unter: http://www.bpb.de/politik/extremismus/islamismus/255521/leitkultur-als-integrationskonzept-revisited

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3. Staat und Religion in Deutschland und Europa

Staat und Kirche sind in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Staaten enger verwoben, als es auf den ersten Blick scheint. In Deutschland zieht der Staat beispielsweise die Kirchensteuer ein, Religionsunterricht ist ein Fach an staatlichen Schulen, in Rundfunkräten sitzen Kirchenvertreterinnen, und theologische Fakultäten sind Teil staatlicher Universitäten. Ein äußerliches Merkmal sind die Feiertage, die in Deutschland überwiegend der christlichen Tradition entstammen.

Ein Interview mit dem Religionssoziologen Gert Pickel zur Geschichte und Bedeutung der religiösen Feiertage:

Deutschlandfunk Kultur (29.10.2017): „Feiertage sind Symbole“, online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/veraendert-sich-die-feiertagskultur-feiertage-sind-symbole.1278.de.html?dram:article_id=399393

Die Politikwissenschaftlerin Anja Hennig gibt einen Überblick über das Verhältnis zwischen Politik und Religion in den unterschiedlichen Regionen Europas:

Hennig, Anja (2013): Zum Verhältnis von Religion und Politik in Europa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24/2013, online unter: http://www.bpb.de/apuz/162392/religion-und-politik-in-europa?p=0

Den wohl umfassendsten Datensatz zur institutionellen Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion in mehr als 180 Staaten der Welt hat der israelische Politikwissenschaftler Jonathan Fox zusammengetragen und in einer Vielzahl von Publikationen vorgestellt. Der Datensatz wird auch von vielen anderen Wissenschaftlern als Grundlage für ihre Forschungen genutzt. Folgendes Buch stellt den Datensatz umfassend vor (nur auf Englisch):

Fox, Jonathan (2015). Political secularism, religion, and the state: A time series analysis of worldwide data. Cambridge: Cambridge University Press.

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4. Religiosität und Kirchenbindung von Jugendlichen und Erwachsenen

Der Religionssoziologe Tobias Künkler von der CVJM-Hochschule in Kassel hat einige Studien zur Religiosität und zu den Theologien Jugendlicher im Bereich des Christentums vorgelegt:

Faix, Tobias/Riegel, Ulrich/Künkler, Tobias (Hgs.) (2015): Theologien von Jugendlichen. Empirische Erkundungen zu theologisch relevanten Konstruktionen Jugendlicher. Münster: LIT Verlag.

Künkler, Tobias (2016): Jugend – Kultur – Glaube. Eine kurze Skizze der heutigen Jugendgeneration, in: Haubeck, Wilfrid/Heinrichs, Wolfgang (Hg.): Neue Generation – neue Kirche. Eins in Christus durch alle Generationen? Theologische Impulse Band 28. Witten: SCM Bundes Verlag, S. 7-25.

Einen Überblick über Religiosität im internationalen Vergleich bietet der Religionssoziologe Gert Pickel in einem Report auf der Grundlage der Daten des Religionsmonitors 2013 der Bertelsmann-Stiftung. Pickel kommt in dem Report u.a. zu dem Schluss, dass Jugendliche generell weniger religiös sind als Ältere.

Gert Pickel (2013): Religiosität im internationalen Vergleich. Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, online unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_Religionsmonitor_Internationaler_Vergleich.pdf

Dagegen kommt eine neure Studie der Universität Tübingen zu etwas anderen Ergebnissen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk erläutert der Theologe und Religionspädagoge Friedrich Schweitzer die Ergebnisse:

Deutschlandfunk (17.08.2018): „Dass Jugendliche kein Interesse an Religion hätten, ist ein Vorurteil“, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/jugendstudie-dass-jugendliche-kein-interesse-an-religion.886.de.html?dram:article_id=425716 (inkl. Audio)

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5. Der Streit um das Kreuz in Bayern

Die Entscheidung der bayerischen Landesregierung unter Markus Söder, in jedem Dienstgebäude im Freistaat ein Kreuz aufhängen zu lassen, hat eine lebhafte Debatte ausgelöst: über religiöse Symbole im öffentlichen Raum ganz allgemein – und darüber, ob das Kreuz allein für den christlichen Glauben im engeren Sinne steh oder auch für eine spezifisch bayerische oder deutsche Kultur und Gesellschaftsordnung.

Der bayerische Kreuzerlass bezieht sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2011, das bei dejure.org angesehen werden kann, ebenso wie weitere Informationen rund um das Urteil:

Online unter: https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=EGMR&Datum=18.03.2011&Aktenzeichen=30814/06

Der Deutschlandfunk hat dem Streit um das Kreuz in bayerischen Amtsstuben eine ganze Sendung gewidmet:

Deutschlandfunk: Kontrovers (30.04.2018): Wieviel Identitätsstiftung braucht das Land?, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/kreuz-heimat-leitkultur-wieviel-identitaetsstiftung-braucht.1784.de.html?dram:article_id=416661 (mit Audio-Datei)

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6. Christen und die AfD

Das Verhältnis der AfD zum Christentum und zu den christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland scheint ambivalent: einerseits gibt es eine Vereinigung namens „Christen in der AfD“, und manche Beobachter sehen Überschneidungen zwischen der Partei und sehr konservativen katholischen oder evangelikalen Kreisen; andererseits regt sich Protest in vielen Kirchengemeinden und in den Kirchenleitungen gegen die ausgrenzende, rechtspopulistische Politik der AfD. Laut Umfragen wählt nur ein sehr kleiner Prozentsatz von kirchennahen Christen die AfD:

Politologe: Bei kirchennahen Christen kommt AfD kaum an, katholisch.de, 16.4.2018, online unter: https://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/politologe-bei-kirchennahen-christen-kommt-afd-kaum-an

Simon Berninger: Alternative für Christen? In: Frankfurter Rundschau, 20.2.2018, online unter: http://www.fr.de/politik/rechtsextremismus/christen-in-der-afd-alternative-fuer-christen-a-1452477

Zusatzmaterialien als PDF zum Herunterladen

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