01 Auftakt: Aura des Heiligen

Autor: Christoph Scheffer

Die Aura des Heiligen – warum Religion Macht über Menschen hat

Wer bei Nacht den Sternenhimmel betrachtet, eine bewegende Musik hört oder einen sakralen Raum betritt, kann eine besondere sinnliche Erfahrung machen. Manche Menschen interpretieren das als spirituelles Erlebnis, als Beleg für die Existenz von etwas Heiligem, einer höheren Macht, eines Gottes.

Religionen verleihen dieser Erfahrung Ausdruck. Sie antworten auf Fragen, die sonst nicht zu beantworten sind. Sie geben Halt und Orientierung und sie vermitteln Werte. Das macht die Religion wichtig, auch für Menschen, die formal keiner religiösen Gemeinschaft angehören. So gewinnt Religion Macht über Menschen, eine Macht, die auch missbraucht werden kann.

Faszination, Verführung und Gefahr des Religiösen

Wo begegnet uns Religion im Alltag? Worin liegt die Faszination des Religiösen? Worin die Verführung, das Erschreckende, die Gefahr?

Die Auftaktsendung zum hr-iNFO Funkkolleg  beschreibt, warum uns etwas „heilig“ ist, warum Religion keineswegs aus unserer Welt verschwindet, auch wenn immer mehr Menschen die Kirchen verlassen oder den Glauben verlieren.

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Sendung als Podcast

Download Funkkolleg Religion Macht Politik (01), MP3-Audioformat, 24:59 Min., 45.7 MB

Sendung in hr-iNFO: 03.11.2018, 11:30 Uhr

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Zusatzmaterial

  1. Zitierte Literatur
  2. Die Macht des Heiligen
  3. Religiosität in Deutschland und Europa
  4. Sakralisierung der Macht
  5. Sakralisierung der Menschenrechte

1. In der Folge zitierte Literatur

  • Hans Joas (2017): Die Macht des Heiligen – Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Frankfurt: Suhrkamp.
  • Navid Kermani (2015): Ungläubiges Staunen – Über das Christentum, München: C.H. Beck.
  • Navid Kermani (1999): Gott ist schön – Das ästhetische Erleben des Koran, München: C.H. Beck.
  • Pollack, Detlef;, Müller, Olaf (2013): Religionsmonitor – Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.
  • El-Menouar, Yasemin; Käseman, Orkan (2016): Factsheet Einwanderungsland Deutschland, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung.

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2. Die Macht des Heiligen

Hans Joas‘  Begriff der Selbsttranszendenz benennt intensive außeralltägliche Erfahrungen als zentrales Element von Religion. In den akademischen Disziplinen, die sich mit Religion befassen – von der Theologie über die Religionswissenschaft bis hin zu Soziologie, Politologie und Psychologie –  gibt es neben dieser Herangehensweise eine große Vielfalt von Definitionen, die versuchen, Religion und ihre Wirkung auf den Menschen begrifflich zu fassen.

Statt der außeralltäglichen Erfahrung betonen andere Autoren beispielsweise den Transzendenzbezug von Religion, die religiöse Praxis, die Vergemeinschaftung von Gläubigen, oder das Vermögen der Religion, dem Menschen bei der Bewältigung der Offenheit und Ungewissheit (Kontingenz) des Lebens zu helfen. Generell lassen sich Religionsdefinitionen danach unterteilen, ob sie Merkmale angeben, die beschreiben, was Religion ist (substanzielle Definitionen), oder ob sie hervorheben, was Religion für den Menschen oder für die Gesellschaft leistet (funktionalistische Definitionen).

Ein erster Überblick über die große Vielfalt wissenschaftlicher Definitionen von Religion findet sich beispielhaft in:

Hock, Klaus (2014): Einführung in die Religionswissenschaft. 5. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Interviews mit Hans Joas und Rezensionen seines Buches „Die Macht des Heiligen“:

Interview mit Hans Joas, Deutschlandfunk, 19.07.2017. Online unter: https://www.deutschlandfunk.de/hans-joas-die-macht-des-heiligen.886.de.html?dram:article_id=398429

Interview mit Hans Joas, Was ist uns noch heilig?, in: Die Zeit 52/2017. Online unter: https://www.zeit.de/2017/52/hans-joas-soziologe-heilige-sakralisierung (Zugang nur mit Abo)

Rezension von Hans Joas‘ „Die Macht des Heiligen“, Deutschlandfunk, 18.02.2018. Online unter: https://www.deutschlandfunk.de/hans-joas-die-macht-des-heiligen-von-der-notwendigkeit.700.de.html?dram:article_id=411055

Rezension von Hans Joas‘ „Die Macht des Heiligen“, Thomas Assheuer: Ende der Religion? Was für ein Irrtum, in: Die Zeit 41/2017. Online unter: https://www.zeit.de/2017/41/die-macht-des-heiligen-hans-joas-theorie-max-weber (Zugang nur mit Abo)

Die Sendung „Vom Ritual zur Religion“ in der Reihe „Quarks & Co“ vom 22.4.2014 geht sehr anschaulich auf die Frage ein, warum Menschen glauben und welche Macht Religion entfalten kann:

Sendung „Quarks & Co“ mit Ranga Yogeshwar zum Thema „Vom Ritual zur Religion“. Online unter: https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/quarks-und-co/video-vom-ritual-zur-religion-100.html (In der Mediathek erhältlich bis April 2019)

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3. Religiosität in Deutschland und Europa

Hans Joas bestreitet die These des berühmten Soziologen Max Weber (1864-1920) von der „Entzauberung der Welt“ seit dem Anbruch der Moderne. Die Macht des Heiligen sei bis heute ungebrochen.

Ob die Welt tatsächlich entzaubert wurde und insbesondere die westlichen Gesellschaften in einem steten Prozess der Säkularisierung begriffen sind, oder ob Religion erneut in den öffentlichen Raum drängt und an Macht und Bedeutung gewinnt, darüber streiten Soziologen schon seit geraumer Zeit.

Eine konzise Einführung in die umfangreiche Literatur zur Säkularisierungstheorie bietet:

Pollack, Detlef (2013): Säkularisierungstheorie. Online unter: https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/251/file/docupedia_pollack_saekularisierungstheorie_v1_de_2013.pdf

Laut Analyse des Religionssoziologen Martin Riesebrodt sind Säkularisierung und Wiederkehr der Religion keine einander ausschließenden Prozesse, sondern aufeinander bezogen:

Riesebrodt, Martin (2014): Religion in the Modern World: Between Secularization and Resurgence. Max Weber Programme, European University Institute. San Domenico di Fiesole (Max Weber Lecture, 2014/1). Online unter: http://cadmus.eui.eu/bitstream/handle/1814/29698/MWP_LS_2014_01_Riesebrodt.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Die Debatte über die Säkularisierungstheorie stützt sich nicht zuletzt auf Umfragedaten zur Religiosität von Bevölkerungen, wie sie beispielsweise für Deutschland vom Religions-Monitor der Bertelsmann-Stiftung oder weltweit vom Pew Research Center in den Vereinigten Staaten erhoben werden.

Pew Research Center (2018): Christ sein in Westeuropa. 29. Mai 2018. Online unter: http://www.pewresearch.org/wp-content/uploads/sites/7/2018/05/Being-Christian-in-Western-Europe-FINAL-GERMAN.pdf, Englisches Original: http://www.pewforum.org/2018/05/29/being-christian-in-western-europe/

Pew Research Center (2018): The Age Gap in Religion Around the World. Online unter: http://www.pewforum.org/2018/06/13/the-age-gap-in-religion-around-the-world/

BertelsmannStiftung: Religionsmonitor. Online unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/religionsmonitor/ 

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4. Sakralisierung der Macht

Religiöse Gemeinschaften und ihre Führer sind in der Vergangenheit immer wieder enge Verbindungen mit politischen Ideologien und politischer Herrschaft eingegangen und tun dies bis heute. Einzelne Versatzstücke religiöser Traditionen werden dann herangezogen, um Macht und Herrschaft, aber auch um Rebellion und Gewalt zu legitimieren, während die Breite und Vielgestaltigkeit der Tradition und ihrer Interpretationen häufig ausgeblendet werden.

Besonders augenfällig ist dieser eklektische Umgang mit der Tradition im Fundamentalismus.

Schäfer, Heinrich (2008): Kampf der Fundamentalismen. Radikales Christentum, radikaler Islam und Europas Moderne. Frankfurt: Suhrkamp.

Doch nicht nur fundamentalistische religiöse Gruppierungen wie die konservativen Evangelikalen in den Vereinigten Staaten oder islamistische Strömungen in vielen muslimischen Ländern suchen die Nähe zur Macht.

Ein aktuelles Beispiel für die enge Verquickung von Religion und Politik ist der Streit zwischen dem Patriarchat der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau und dem Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel über die Frage, wer die kirchliche Hoheit über die Ukraine hat – und das vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts. In einem aufschlussreichen Interview gibt Thomas Bremer, Professor für Ostkirchenkunde in Münster, Auskunft über dieses moderne Kirchen-Schisma.

Kirchenspaltung im Ukraine-Konflikt. Die Orthodoxie streitet über die Kirche in der Ukraine. Thomas Bremer im Gespräch mit Kirsten Dietrich. Deutschlandfunk, 21.10.2018. Online unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kirchenspaltung-im-ukraine-konflikt-die-orthodoxie-streitet.1278.de.html?dram:article_id=431045

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5. Sakralisierung der Menschenrechte

Das Spannungsfeld zwischen Religion und Menschenrechten hat im Jahr 2011 die „Zeitschrift für Menschenrechte“ analysiert. Unter anderem finden sich Beiträge zur Frage, ob Religion generell schlecht für Frauen ist und wie im Islam die Debatte über Menschenrechte geführt wird.

Zeitschrift für Menschenrechte: Menschenrechte und Religion, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Online unter: http://www.zeitschriftfuermenschenrechte.de/open-access/zfmr_1_2011.pdf

Hans Joas hielt 2014 den Abschlussvortrag beim Deutschen Historikertag in Göttingen zum Thema „Sind die Menschenrechte westlich?“. Darin entfaltet er seine Idee von der Sakralisierung des Individuums, die sich in den Menschenrechten ausdrückt.

Hans Joas: Sind die Menschenrechte westlich? Abschlussvortrag, Deutscher Historikertag, 17.12.2014. Online unter: https://www.ardmediathek.de/tv/Campus/Sind-die-Menschenrechte-westlich/ARD-alpha/Video?bcastId=14912932&documentId=25318102.

Dass die Menschenrechte mitunter in den Rang von heiligen Geboten erhoben werden, ist Thema eines Beitrags zum Humanistentag 2018:

Deutschlandfunk (Tag für Tag), 21.06.2018: Erklärung der Menschenrechte – Bibel der Humanisten? Humanistentag 2018, Online unter: https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2018/06/21/erklaerung_der_menschenrechte_bibel_der_humanisten_dlf_20180621_0949_4060dfb4.mp3

Zusatzmaterialien als PDF zum Herunterladen

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